Schon viele Jahre bin ich der Überzeugung, dass die Genussfähigkeit zum eigenen Glück und der Zufriedenheit einen wichtigen Beitrag leistet. Vielleicht stärkt sie sogar unsere Resilienz und reduziert Stress.

In den letzten Tag kam mir nun eine Studie* in die Hand, die genau diese Idee als wichtiges Forschungsfeld aufgreift und eine erste gewichtige Aussage macht: Genussfähigkeit ist so wichtig wie Selbstkontrolle.

Laut dieser Studie ist das zentrale Element der Genussfähigkeit oder der hedonistischen Fähigkeit, wie sie auch genannt wird, lustvolle Aktivitäten zu geniessen, ohne sich gedanklich davon ablenken zu lassen. Gerade der zweite Aspekt ist dabei sehr bedeutsam, damit das unmittelbare Bedürfnis nach Entspannung nicht untergraben wird.

Die Fähigkeit zu geniessen ist sehr eng mit unserer Wahrnehmung verknüpft und erweitert offensichtlich unsere Perspektive. Ohne Bewusstheit und Achtsamkeit wird es also schwierig. Genuss kann zwar alle Sinne ansprechen, jedoch sind meist individuelle Sinnespräferenzen üblich.

Wie ich schon vor Jahren vermutete, weisen nun Studienresultate bei genussfähigen Menschen auch längerfristig mehr Wohlbefinden aus, generell höhere Lebenszufriedenheit und weniger Depressions- und Angstsymptome. Genussfähigkeit scheint uns zu helfen, Energie zu tanken, offen für Herausforderungen zu sein und motivierter an Arbeiten heran zu gehen.

Genussfähigkeit scheint uns zu helfen, Energie zu tanken, offen für Herausforderungen zu sein und motivierter an Arbeiten heran zu gehen.

Aktuell leben wir eher in einer genussfeindlichen Welt, insbesondere hemmt unsere Schnelllebigkeit den Genuss. Auch die omnipräsente Effizienz fördert unsere Genusskompetenzen nicht gerade. Ersichtlich ist dies an Trends wie Fast Food oder Coffee to go. Erzieherische Ratschläge wie «Erst die Arbeit, dann das Vergnügen» oder «Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen» tragen auch ihren Anteil dazu bei und prägen unsere Mindsets. Dazu kommt, dass Genuss in unserer Gesellschaft – vielleicht auch im Sog der Selbstkontrolle nicht gerade mit Wertschätzung überhäuft wird. Der Boom von Wellness ist eher Ausdruck der Sehnsucht nach Erholung und Genuss, weniger Zeugnis der Genussfähigkeit.

Genussfähigkeit zeigt sich darin, sich an gutem Essen, guter Musik, einem guten Gespräch oder einem Spaziergang in der freien Natur, usw. erfreuen zu können. Es geht darum, genussvolle Dinge bewusst und fokussiert tun und ausdrücken zu können.

Genussfähigkeit zu lernen, kann ganz konkret bedeuten:

  • Überzeugungen und Bewertungen hinterfragen – Genusserlaubnis
  • Zwischendurch das Tempo herausnehmen und die Effizienz drosseln
  • Bewusste, abgegrenzte Genussmomente planen, allenfalls gar als Rituale
  • Genussregeln wie z. B. langsam essen, bewusst hinhören usw. erstellen
  • Genuss lebt von immer wieder neuer Stimulanz – Wechsel zahlt sich aus
  • Nicht immer längerfristige Ziele über kurzfristiges Vergnügen stellen
  • Bewusst das Anspannungsniveau (Kampf-/Fluchtmodus) senken
  • Die Wahrnehmung üben und schärfen
  • Eigene Grenzen und Bedürfnisse kennen
  • Positive Gefühle und Zustände verinnerlichen

Genuss muss man wollen, dürfen und lernen! Schönerweise stärkt Begrenzung die Sinne und erhöht die Wahrnehmung für alltägliche, genussvolle Momente. Wie die Hedonismus-Fähigkeit weiter gestärkt werden kann, muss laut Forscher*innen nun noch tiefer untersucht werden.

So oder so wünsche Ihnen den Mut, unmittelbaren Bedürfnisse und kurzfristigem Vergnügen immer mal wieder Raum zu lassen.

Jonas Baumann-Fuchs, Kultivierer.ch

*Studie: Bernecker, K., & Becker, D. (2020). Beyond self-control: mechanisms of hedonic goal pursuit and its relevance for well-being. Personality and Social Psychology Bulletin. doi: 10.1177/0146167220941998